
Florian Stumfall
Berliner Regulierungslücken

Der Bürger, seit geraumer Zeit an politische Wege gewöhnt, die man früher nicht für möglich gehalten hatte, erlaubt sich dennoch, zu staunen. Denn da sind zunächst einmal die Kosten. Veranschlagt wurden diese auf 777 Millionen Euro, wobei die von der EZB herbeigesehnte Inflation gar nicht eingerechnet ist. Nach aller Erfahrung wird man sich glücklich schätzen können, wenn die Milliarden-Grenze nicht allzu weit überschritten wird.
Steigerung der Bevormundung
Das ist aber – wenn auch ein großes Ärgernis – nur die eine Seite. Das eigentliche Problem jedoch fängt erst nach Fertigstellung an. Denn die zahllosen Räume müssen mit ebenso zahllosen Beamten besetzt werden, und deren Aufgabe ist es, Rechtsakte vorzubereiten oder zu erlassen. Das heißt, auf die Bürger kommt eine weitere Welle von Einschränkungen, Verfügungen und Vorschriften zu.
Der Staat rückt noch näher heran, er nimmt Einblick in das persönliche Gehabe, steigert die Bevormundung, lenkt die Lebensführung des einzelnen und beschneidet immer mehr Freiheitsrechte. Denn dass eine erhöhte legislative oder Verwaltungs-Aktivität insgesamt zu einer Liberalisierung des Lebens geführt hätte, ist nicht erinnerlich. Darüber kann auch, beispielsweise, eine weitere Destruktion des Namensrechts nicht hinwegtäuschen.
Die Einhegung und Gängelung des Bürgers aber ist gewollt. Sie ist nicht die Folge erhöhter Bürokratie, sondern diese stellt die Voraussetzung dafür dar, dass man die Menschen immer mehr konditionieren und kontrollieren kann. Da gab es vor rund 15 Jahren im Bundesfinanzministerium einen beamteten Staatssekretär mit Namen Asmussen, der als Zeuge gelten mag für einen politischen Willen, den normativen Druck auf die Bevölkerung stetig zu erhöhen und zu vervollständigen. Er nämlich hat einen Begriff in die Welt gesetzt, bei dem einem kalt werden kann. Dieser Asmussen nämlich sprach von einer „Regulierungslücke“, die ihm untergekommen war.
„Regulierungslücke“ also – ein Ausdruck, überaus verräterisch und anmaßend. Er bezeichnet die politische Zielvorstellung der kompletten Kontrolle des Lebens, die Verhängung einer Vorschrift für jede denkbare Lebenslage, die Einordnung der Menschen in ein vorgefertigtes System. Das Leben solle, wie der Ausdruck bezeigt, lückenlos reglementiert sein – die Idee der Freiheit, der Staatsgewalt, die vom Volk ausgeht, des Bürgers als Souverän: all das wird in letzter Konsequenz hingegeben für ein Regelwerk von Befehl und Gehorsam.
Man spürt, wie die Regulierungslücke jeden Regulierer mit Entsetzen, Empörung und Abscheu erfüllt. Ein Lebensbereich, der dem Gutdünken des Einzelnen anheimgegeben bleibt? Undenkbar!
Mehr Gesetze - weniger Freiheit
Im Verhältnis des einzelnen Bürgers zu seiner Obrigkeit gibt es ein Merkmal, das man die „Staatsintensität“ nennen könnte. Diese beschreibt, wie stark und wie umfassend die öffentlichen Autoritäten auf den Einzelnen einwirken, welche Lebensbereiche sie abdecken und wie die Ahndung des Fehlverhaltens aussieht. Das Maß der Staatsintensität bestimmt das Maß der Freiheit. Je mehr nach Regulierungslücken gefahndet wird, umso mehr nimmt die Freiheit Schaden.
Wenn auch Goethe recht hatte mit seiner Aussage, nur das Gesetz könne Freiheit geben, so ist das doch längst in Vergessenheit geraten. Gesetze, welche die Freiheit festschreiben, verlieren an Kraft gegenüber solchen, die sie beschneiden. Und diese nehmen an Zahl ständig zu – nicht wegen einer ungewollten, denaturierten Wucherung, sondern aus Absicht, aus politischem Willen. Dafür steht das Bundeskanzleramt in Berlin bereits in seiner heutigen Größe und beseitigt letzte Zweifel, wenn es verdoppelt sein wird.
Fast überflüssig, darauf hinzuweisen, dass in diesem Zusammenhang die EU eine verheerende Rolle spielt. Derzeit erheben 1900 Brüsseler Richtlinien Anspruch auf Gehör und Gehorsam und darauf, in den nationalen Parlamenten in Kraft gesetzt zu werden. Dieser Akt wurde niemals verweigert. Die Parlamente begnügen sich damit, die Vorlagen abzunicken. Ihre einzige Funktion ist es, dem Gesetzestext noch ein Vielfaches an Ausführungsbestimmungen zuzufügen, um der Gefahr vorzubeugen, es könne sich eine Regulierungslücke auftun.
Erhöhung der Staatsintensität
Doch die Richtlinien sind nur das eine. An Zahl und Wirkung erheblich bedeutender sind die Verordnungen. Es ist nicht einfach zu erfahren, wie viele es sind, die amtlichen Stellen weisen das nicht aus. Doch es gibt eine Zahl, wenn auch nicht mehr ganz aktuell, die wenigstens eine Größenordnung darstellt. Von 1998 bis 2008 wurden in Brüssel 25.257 Verordnungen erlassen. Diese unterscheiden sich von den Richtlinien in zweierlei. Zum einen müssen sie nicht in den nationalen Parlamenten bestätigt werden, sie stellen diktatorische Bestimmungen dar.
Zum anderen richten sich die Verordnungen nicht nur an Staaten, sondern auch an Privatpersonen. Wie sehr sie dabei tief in das Privatleben eingreifen, mag ein außerordentlich groteskes Beispiel zeigen. So ist es verboten, gebrauchte Teebeutel zum Kompost zu geben. Die EU fürchtet Keime. Dass es aber ohne Keime gar keine Kompostierung geben kann, ist in Brüssel nicht von Belang.
Man sieht: Zugunsten einer möglichst hohen Zahl von Vorschriften nimmt man auch solche in Kauf, die unsinnig sind. Denn nicht die Sinnhaftigkeit ist ihr Zweck, sondern die Erhöhung der Staatsintensität durch die große Zahl. So nämlich mindern sie die Freiheit der Bürger.
Kolumne von Dr. Florian Stumfall
Erstveröffentlichung PAZ (redaktion@preussische-allgemeine.de)
